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Zigarrenkistenholz - Z

Bild 16.903: Zigarrenkistenholz - Zigeuner
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Zigeunerein rätselhaftes Wandervolk, das über ganz Europa, einen großen Teil Asiens und über Nordafrika / 1798
Zigeuner _2# ein eigenartiges Wandervolk, das in fast ganz Europa und in einzelnen Teilen von Asien, Afrika / 3229

Seite 16.903

Zigeuner

5 Seiten, 5'027 Wörter, 33'744 Zeichen

Geographie — Europa

Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888



Zigeuner,

Länder der Ungarischen

Bild 15.998a: Länder der Ungarischen Krone
* 3 Ungarn.

ein rätselhaftes Wandervolk, das über ganz Europa, [* 2] einen großen Teil Asiens und über Nordafrika zerstreut lebt und seit seinem ersten Bekanntwerden in Europa zu Anfang des 15. Jahrh. Sprachforscher, Geographen und Geschichtschreiber lebhaft beschäftigt hat. Die Namen, mit denen dieses Volk von andern bezeichnet wird, sind sehr mannigfaltig. Am verbreitetsten ist die mit dem griechischen Atsinkanos oder Athinganos zusammenhängende Benennung, die bulgarisch Atzigan lautet und mit geringen Abweichungen bei allen slawischen Völkern und den Litauern sowie bei den Deutschen (Zigeuner), den Rumänen (Tzigan), den Ungarn [* 3] (Czigany) und den Italienern (Zingaro, Zingano) vorkommt.

Denselben Ursprung hat das türkische Tschingiané. In Spanien [* 4] heißt der Zigeuner Gitano, ein Name, welcher sowie das englische Gipsy und das albanische Jevk auf dem Irrtum beruht, als sei Ägypten [* 5] die Heimat der Zigeuner. Bei den Franzosen heißen die Zigeuner Bohémiens, wohl deswegen, weil die ersten in Frankreich bekannt gewordenen Zigeuner aus Böhmen [* 6] kamen. Daneben bestehen die Namen Heidenen (Heider) und Tatern. Das erwähnte griechische Wort Athinganos war der Name einer Sekte, die im frühen Mittelalter in Phrygien und Lykaonien zahlreich vertreten war, und die Zigeuner erhielten bei den Griechen diesen Namen wahrscheinlich deswegen, weil sie aus jenen Provinzen nach den westlichen Teilen des byzantinischen Reichs kamen.

Rom

Bild 13.903a: Rom
* 7 Rom.

Andre bringen die Zigeuner mit den Sigynoi Herodots (V, 9) in Verbindung, ohne zu bedenken, daß, während der Zusammenstellung von »Zigeuner« mit Athinganos nichts im Weg steht, die Ableitung des Wortes Zigeuner von Sigynos lautlichen Schwierigkeiten begegnet. Nach M. J. ^[Michael Jan] de Goeje ist der Name Zigeuner von dem persischen Tsjeng abzuleiten, das ein musikalisches Instrument bezeichnet. Ebenso mannigfaltig sind die Namen, mit denen die Zigeuner sich selbst benennen; nur die Bezeichnung Rom [* 7] (der altindische Name einer unreinen Kaste, dann s. v. w. Mensch, Mann) ist den Zigeunern aller Länder bekannt. - Die Sprache [* 8] der Zigeuner ist ihrem Kerne nach unzweifelhaft indoeuropäisch und hängt mit dem Sanskrit zusammen.

Dies erhellt aus der Materie sowie der Form dessen, was allen Zigeunermundarten gemeinsam ist. Die Sprache der Zigeuner steht durch ihre Lautgesetze, durch die Stammbildung sowie durch die Bezeichnung der Kasus den heutigen arischen Sprachen Indiens in dem Grad nahe, daß sie mit Fug und Recht an die neuindischen Sprachen arischen Ursprungs (s. Indische Sprachen) angereiht wird. Was sich im Zigeunerischen in Lautverhältnissen Abweichendes findet, mag darin seinen Grund haben, daß nicht alle arischen Idiome des unermeßlichen Indien an allen Lautwandlungen teilgenommen haben.

Die Abweichungen im Verbum können teils auf ähnliche Weise, teils, wie z. B. das Imperfektum, als Neubildungen erklärt werden. Aus dem hier über die Sprache Gesagten ergibt sich, daß die Heimat dieses Volkes in Indien zu suchen ist; wenn man sie in die nordwestlichen Gegenden dieses Landes versetzt, so ist dies eine Hypothese, welche durch vielfache Übereinstimmung der in jenem Teil Indiens gesprochenen Mundarten mit dem Zigeunerischen einigermaßen gestützt werden kann.

Wann aber die Zigeuner aus ihrer indischen Heimat ausgezogen, läßt sich nicht bestimmen. Aus der Übereinstimmung des Zigeunerischen mit den heutigen arischen Sprachen Indiens in so vielen wichtigen Punkten ergibt sich, daß die Auswanderung erst zur Zeit der Bildung der letztern vor sich gehen konnte, also nach der Periode des Prâkrit, das noch die alte Deklination kennt, da man kaum geneigt sein wird, anzunehmen, das Zigeunerische habe sich, losgelöst von den nächst verwandten Idiomen, in derselben Weise wie diese entwickelt. Es können demnach die Zigeuner weder mit den Sintiern Homers noch mit den Sigynen Herodots identifiziert werden. In Europa und zwar in Byzanz erscheinen sie zuerst 810 unter dem Kaiser Nikephoros unter dem mehrfach erwähnten Namen Athinganoi.

Unter der Zigeunersprache versteht man das von den Zigeunern aus Indien mitgebrachte Sprachgut. Da dieser allen Zigeunern gemeinsame Kern mit Zuthaten aus den Sprachen aller jener Völker vermengt ist, unter denen sich die Zigeuner lange genug aufgehalten, so ergibt sich daraus eine Anzahl von Mundarten, deren man in Europa etwa 13 annehmen kann: die griechische, die rumänische (zu welcher die Sprache der südrussischen Zigeuner gehört), die ungarische, die böhmische, die deutsche, die polnische, die russische, die finnische, die skandinavische, die englische, die italienische, die baskische und die spanische.

Diese Mundarten, aus deren Aufzählung sich die Verbreitung der Zigeuner in unserm Weltteil ergibt, weichen voneinander teilweise so sehr ab, daß beispielsweise ein ungarischer Zigeuner einen deutschen nur mit Mühe, einen englischen oder spanischen gar nicht verstehen würde. Zu den Verschiedenheiten im Wortschatz treten die Abweichungen in der Form, indem manche Zigeunermundarten die zigeunerische Form in Deklination und Konjugation aufgegeben und durch die dem Volk, unter dem sie leben, eigne ersetzt haben.



Zigeunerkorn - Zilkide

Bild 16.904: Zigeunerkorn - Zilkide
* 10 Seite 16.904.

Während der griechische Zigeuner von dai, Mutter, den Plural daiá bildet, lautet derselbe dem spanischen Zigeuner dais; den den übrigen Zigeunermundarten wie dem Neugriechischen und Bulgarischen fehlenden Infinitiv ersetzt der spanische Zigeuner durch die Form auf ar: penar, sagen. Wenn uns der allen Zigeunermundarten gemeinsame Kern die Heimat der Zigeuner in Indien hat finden lassen, so zeigen uns die Zuthaten den Weg, den sie auf ihrer Wanderung aus Indien bis zum Eismeer und zum Atlantischen Ozean sowie nach Sibirien eingeschlagen haben. Persische und armenische Bestandteile, die überall nachgewiesen werden können, zeigen uns den Weg und die Etappen in Asien. [* 9] Die griechischen Elemente, die in keiner europäischen Mundart fehlen, beweisen, daß alle Zigeuner ¶

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Europas aus einem Land stammen, wo Griechisch die herrschende Sprache war; auch slawische und rumänische Elemente zeigen sich in allen Zigeuneridiomen. Mit Hilfe dieser Elemente kann beispielsweise nachgewiesen werden, daß die spanischen Zigeuner ehedem unter Griechen, Slawen (etwa Bulgaren) und Rumänen längere Zeit gelebt haben, während wir in der Mundart der englischen Zigeuner überdies deutsche und französische Wörter finden. Das Fehlen arabischer Elemente in den Zigeunermundarten Europas macht die Annahme, daß die europäischen Zigeuner aus Ägypten eingewandert seien, ganz unwahrscheinlich. In Byzanz finden wir die Zigeuner, wie erwähnt, zu Anfang des 9. Jahrh.; auf Kreta sind sie 1322 nachgewiesen, vor 1346 auf Korfu, [* 11] um 1370 in der Walachei, 1398 in Nauplia, ohne daß bekannt wäre, wann sie an jedem der genannten Orte zum erstenmal erschienen.

Schweden und Norwegen

Bild 14.700a: Schweden und Norwegen
* 12 Schweden.

Als das Datum ihres ersten Auftretens in Ungarn wird 1417 angegeben, während böhmische Annalen schon 1416 von Zigeunern erzählen, ohne dieses Volk als etwas früher nicht Gesehenes zu bezeichnen. In Polen wahrscheinlich unter Wladislaw Jagello eingewandert, werden sie zuerst 1501 erwähnt; um dieselbe Zeit mögen sie auch in Rußland aufgetreten sein. Nach Schweden [* 12] kamen sie 1512. Im Lande der Basken werden sie vor 1538 nicht erwähnt; 1447 erschienen sie vor Barcelona. [* 13] In England sind sie vor der Mitte des 15. Jahrh. unbekannt; 1531 wurde dort die erste Verordnung gegen sie erlassen. - Was den Charakter der Zigeuner anlangt, so sind dieselben leichtsinnig, treulos, furchtsam, der Gewalt gegenüber kriechend, dabei rachsüchtig, im höchsten Grad cynisch und da, wo sie glauben es wagen zu können, anmaßend und unverschämt.

Alle sind dem Betteln ergeben, gestohlen wird besonders von Weibern und Kindern; offener Straßenraub ist fast ohne Beispiel. Daß sie Kinder stehlen, ist ebenso falsch wie die Beschuldigung des Kannibalismus. Die Frauen und Mädchen der Zigeuner sollen unter den Tataren der Krim [* 14] sowie in Spanien ebenso sittsam sein, als sie in Ungarn und Rumänien [* 15] zügellos sind. In religiösen Dingen völlig indifferent, huldigen die Zigeuner zum Schein der Religion des Landes; wo sie Christen sind, sind sie bereit, ihre Kinder öfters taufen zu lassen, um Patengeschenke zu erhalten.

Hufeisen - Hufeland

Bild 8.761: Hufeisen - Hufeland
* 16 Hufeisen.

Sie heiraten immer unter sich. Die Zigeuner binden sich nur ausnahmsweise an feste Wohnsitze, ihre Häuser stehen dann am Ende des Ortes; die wandernden beschränken ihre Züge meist auf das Land ihrer Geburt, und wenn sie es verlassen, geschieht es immer mit dem Gedanken an Rückkehr. Unter ihren Beschäftigungen nimmt die Kleinschmiederei von Nägeln, Hufeisen, [* 16] Maultrommeln u. dgl. die erste Stelle ein; sie flicken Kessel, Pfannen, Töpfe, verfertigen hölzernen Hausrat, geben sich mit Goldwäscherei ab, sind Bärenführer. Der Pferdehandel, welcher der List ein weites Thor öffnet, ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen in allen Ländern;

die Musik wird von den Zigeunern im Osten Europas mit Vorliebe und Erfolg gepflegt;

der Tanz der Zigeunerinnen ist lebendig und soll an den der indischen Bajaderen erinnern;

das Wahrsagen aus der Hand [* 17] schwindet mit dem Glauben daran immer mehr, selbst in weniger zivilisierten Ländern.

Hinsichtlich der Körperbeschaffenheit der Zigeuner ist zu bemerken, daß die Zigeuner keineswegs schwarz von Hautfarbe sind. Wenn man über schwarzen Samt olivenfarbigen Flor legte, so würde dies ungefähr den Eindruck wiedergeben, den die Epidermis [* 18] der Zigeuner auf das Auge [* 19] macht. Ihre Gesichtsfarbe ist meist lichter als die Hautfarbe des übrigen Körpers, aber ohne eine Spur des dem Europäer eigentümlichen Rot; die Leidenschaft ruft nur eine größere Blässe des Gesichts hervor. Im allgemeinen sind die Zigeuner von mittlerer Statur, schlank, von schöner Muskulatur der Schultern, Arme und Beine; sie haben kleine Füße und Hände und lange, zugespitzte Finger.

Nase - Nasenbluten

Bild 11.1015: Nase - Nasenbluten
* 20 Nase.

Fettleibigkeit kommt nur bei alten Weibern vor. Die schönen Formen der Zigeuner erinnern an bronzene Meisterwerke der Plastik aus dem Altertum. Sie haben etwas schief gegen die Schläfe aufsteigende und lang gewimperte, schwarze, höchst lebendige Augen, meist einen feinen Mund mit schönen, gerade stehenden, weißen Zähnen. Die Nase [* 20] ist gewöhnlich wohlgeformt und etwas gebogen; das Kinn ist rund, die Stirn hoch, häufig aber durch das lange, straffe und starke Haar [* 21] bedeckt. Aus den glühenden Augen blitzt tierische Wildheit hervor; unstet schwankt der Ausdruck zwischen Schlauheit, Furcht und Haß; die wohlgeformte Stirn drückt die Begabtheit des Geistes aus. - Die Zahl der Zigeuner in Europa beträgt wohl über 700,000, von denen auf die Türkei [* 22] 500,000, auf die österreichische Monarchie 156,000 entfallen. Man hat die Gesamtzahl der Zigeuner in den drei Weltteilen zu 5 Mill. geschätzt, was jedenfalls eine arge Übertreibung ist.

Die Litteratur über die Zigeuner ist sehr reich. Hervorzuheben sind: Grellmann, Historischer Versuch über die Zigeuner (Götting. 1787), worin zuerst auf Indien als die Heimat der Zigeuner hingewiesen ist;

Pott, Die Zigeuner in Europa und Asien (Halle [* 23] 1844-45, 2 Bde.);

Bataillard, De l'apparition et de la dispersion des Bohémiens en Europe (Par. 1843-44) und »Nouvelles recherches« (das. 1849);

v. Miklosich, Über die Mundarten und die Wanderungen der Zigeuner Europas (Wien [* 24] 1872-80, 12 Tle.);

Derselbe, Beiträge zur Kenntnis der Zigeunermundarten (das. 1874-1878, 4 Tle.);

Erzherzog Joseph, Czigány nyelvtan.

Románo czibákero sziklaribe (Budap. 1888); Colocci, Gli Zingari (Tur. 1889); »Journal of the Gipsy lore Society« (Edinb. 1888-89).

Vgl.   ferner über die Zigeuner einzelner Länder: Paspati, Études sur les Tschinghianés ou Bohémiens de l'empire ottoman (Konstant. 1870), ein für die Grammatik und das Lexikon des am besten erhaltenen Zigeuneridioms grundlegendes Werk; Bornemisza, Über die Sprache der Zigeuner (Pest 1853, ungar.);

Schwicker, Die Zigeuner in Ungarn und Siebenbürgen (Teschen 1883);

Liebich, Die Zigeuner in ihrem Wesen und ihrer Sprache (Leipz. 1863);

J. ^[Josef] Ješina, Romáňi čib oder die Zigeunersprache (deutsch, das. 1886);

Böhtlingk, Über die Sprache der Zigeuner in Rußland (Petersb. 1853);

Sundt, Beretning om fante-eller Landstrygerfolket i Norge (2. Aufl., Christ. 1852);

Dyrlund, Tatere og Natmandsfolk i Danmark (Kopenh. 1872);

Smart und Crofton, The dialect of the English Gipsies (2. Aufl., Lond. 1875);

Ascoli, Zigeunerisches (Halle 1865);

Borrow, The Zincali (Lond. 1861);

de Sales Mayo, El gitanismo (Madr. 1870).

Ende Zigeuner (1)
→ Seite 16.904: Zigeunerkorn ⟹ s. Hyoscyamus.

Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910


Titel
Elemente zu Zigeuner:

[16.903] Zigeuner ein rätselhaftes Wandervolk

Zigeuner,



Zigeuner

Bild 66.972: Zigeuner
* 27 Seite 66.972.

ein eigenartiges Wandervolk, das in fast ganz Europa und in einzelnen Teilen von Asien, Afrika [* 25] und Amerika [* 26] angetroffen wird. Die Herkunft der Zigeuner ist lange rätselhaft geblieben. Die älteste und am weitesten verbreitete Ansicht war die, daß die Zigeuner aus Ägypten stammen. Sie stützte sich auf die eigenen Angaben des Volks bei seinem ersten Erscheinen im mittlern Europa. Die Bande, die 1417 zuerst in den Hansestädten an der Nord- und Ostsee erschien, gab an, aus Kleinägypten zu stammen. Dasselbe ¶

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Land nannten als ihre Heimat übereinstimmend die Banden, die 1418 in der Schweiz, [* 28] 1422 in Italien [* 29] und 1427 vor Paris [* 30] erschienen. In niederländ. Urkunden aus dem 15. Jahrh. werden wiederholt Könige und Grafen von Kleinägypten erwähnt. Daher führen bei vielen Völkern die Zigeuner Namen, die auf Ägypten hinweisen. In Spanien hießen sie früher Egypcianos oder Egipcianos, jetzt ebenso wie in Portugal Gitanos, in England im 16. Jahrh. Egipcions, jetzt Gypsies, in alten holländ. Urkunden Egyptiers, Egyptenaren, Egiptenaers, Giptenaers, daneben auch Heidenen, Heidens, wie jetzt allein; die Franzosen nannten sie früher Egyptiens, jetzt Bohemiens oder Zinganes; die Griechen nennen sie Γξφτοι (Gifti), die Albanesen Evgit, und in Ungarn ist noch jetzt die Bezeichnung Pharao nepe («Volk Pharaos») gebräuchlich.

Geschichtskarten von D

Bild 4.772a: Geschichtskarten von Deutschland V
* 31 Deutschland.

Unter Kleinägypten ist möglicherweise, wie Hops vermutet, der Peloponnes zu verstehen, wo am Ende des 15. Jahrh. deutsche Reisende Zigeuner bereits fest angesiedelt fanden. Nächst der ägypt. Hypothese war keine allgemeiner als die tatarische. In Deutschland [* 31] war die Bezeichnung Tataren oder Tartaren für Mongolen lange gebräuchlich, und als die Zigeuner zuerst nach Deutschland kamen, glaubte das Volk, die Mongolen seien wiedergekommen, und nannte sie Tataren. Auf dem gesamten Gebiet des Niederdeutschen und Friesischen hat sich in mancherlei dialektischen Varietäten der Name Tatern für Zigeuner erhalten, und er ist von dort nach Dänemark [* 32] und Schweden, ja zu den Finnen gewandert.

Das Rätsel ihrer Herkunft wurde erst gelöst, als man daran ging, ihre Sprache zu untersuchen. Nachdem Rüdiger 1782 und Grellmann 1783 die richtige Spur gefunden hatten, erwies Pott 1844 streng wissenschaftlich, daß die Sprache der Zigeuner eine indische sei. Näher begrenzt hat ihre Heimat Miklosich. Er zeigte 1878, daß das Zigeunerische der nordwestlichsten Gruppe der arisch-ind. Sprachen angehört, den Sprachen der Darden, Kafiristans und der Stämme im Hindukusch.

Lange glaubte man, den Anfang ihrer Geschichte in Indien selbst nachweisen zu können. Der pers. Epiker Firdusi, der um 1000 n. Chr. lebte, erzählt in seinem Schahname, daß der pers. König Bahram Gur (um 420 n. Chr.) von dem ind. Könige Schankal von Kanaudsch sich 10000 Luris erbat, damit sie durch ihre Kunst im Lautenspiel seine armen Unterthanen erfreuten. Die Luris verschwendeten ihren Weizen und verkauften die Kühe und waren bald ganz mittellos. Da befahl ihnen Bahram Gur zornig, mit ihren Eseln durch sein Land zu wandern und sich durch Gesang und Instrumentalmusik zu ernähren.

Persien

Bild 12.865a: Persien
* 33 Persien.

Die Luris, sagt Firdusi, wandern jetzt gemäß diesem Befehle in der Welt umher, indem sie Beschäftigung suchen, sich zu Hunden und Wölfen gesellen und auf der Landstraße Tag und Nacht stehlen. Dieselbe Geschichte erzählt außer andern pers. Schriftstellern auch der arab. Geschichtschreiber Hamsa al Ißfahani, der ein halbes Jahrhundert vor Firdusi lebte. Luri oder Luli aber ist der Name, den noch jetzt die Zigeuner vorzugsweise in Persien [* 33] führen, und trotz der märchenhaften Einkleidung der Geschichte ist es kaum zu bezweifeln, daß im 5. Jahrh, ein Trupp Zigeuner aus Indien nach Persien kam, womit aber nicht gesagt ist, daß gerade diese die Ahnen der europäischen Zigeuner sind.

Das aber hat man vielfach angenommen. Hamsa nennt die ind. Musikanten Zott, ein Name, der arabisiert ist aus Jatt (spr. Dschatt), und deshalb hat man die Zigeuner für Jats erklärt, d. h. für das Volk, das den ältesten und wichtigsten Bestandteil der Bevölkerung [* 34] des südl. Pandschabs ausmacht. Die Geschichte dieser Jats und damit, wie man meinte, die der Zigeuner hat dann der gelehrte holländ. Arabist de Goeje vom 7. Jahrh. an aus arab. Quellen verfolgt. Seitdem durch O'Brien 1881 die Sprache der Jat, das Jatkr oder Multam, genauer bekannt geworden ist, weiß man, daß Jats und Zigeuner ganz verschieden sind, und der Bericht über den Census des Pandschabs 1881 von Ibbetson (3 Bde., Lahaur 1883) ergiebt, daß ganz andere Stämme des Pandschabs als die Jats den Anspruch auf Zigeunertum erheben können, namentlich die Sansi und die Tschangar.

Die Tschangar haben schon Rienzi (1832) und Trumpp (1872) mit den Zigeuner identifiziert, und es ist nicht zu leugnen, daß sich in ihrer Sprache Anklänge an den Sprachschatz der Zigeuner und der Dialekte von Kasiristan finden. Außerdem stimmt der Name Tschangar auffallend zu der ältesten lat. Form des Namens Zigeuner, nämlich Zingari, so daß ein näherer Zusammenhang zwischen Tschangars und Zigeuner nicht ausgeschlossen ist. Der Name Zigeuner selbst ist seiner Herkunft nach noch ganz dunkel. Er lautet bei den Türken Tschinghiane, rumänisch Ciganu, ungarisch Czigany, bulgarisch Ciganin, litauisch Cigonas, italienisch Zingaro und Zingano u.s.w.

Die ältesten Chronisten nennen sie lateinisch Secani, Cingari, Zingari, vulgariter «Cigäwnär», im Deutschen Ziginer, Zigeiner, Zegeiner, niederdeutsch Suvginer, Zigöner u. s. w. Sie selbst nennen sich Rom (Femininum Romni),

im Plural auch Romani tschave, d. h. «zigeunerische Kinder». Rom heißt «Schwarm», «Stamm» und läßt sich reichlich aus Dardudialekten belegen. Andere von den Zigeuner selbst gebrauchte Namen sind Romani tschel (tschal, sal, säl) und besonders Sinte oder Sinde, auch Manusch (Mensch), Kale oder Mellele (Schwarze).

Die älteste Erwähnung der Zigeuner in Europa ist die im Itinerarium des Franziskanermönches Simon Simeon, der 1322 die Insel Kreta besuchte und dort ein Volk fand, das seiner Schilderung nach nur Zigeuner gewesen sein können. Hopf hat urkundlich nachgewiesen, daß es jedenfalls vor 1346 Zigeuner auf Korfu gegeben hat. Um 1370 finden sich Zigeuner auf der epirotischen Küste gegenüber von Korfu, teils umherschweifend, teils fest angesiedelt; um 1398 bestätigte der venet. Statthalter der griech. Kolonie Nauplion, Ottaviano Buono, den dortigen Acingani, d. h. Zigeuner, speciell ihrem Häuptling Johann, die Privilegien, die ihm seine Vorgänger verliehen hatten.



Zigeuner

Bild 66.973: Zigeuner
* 35 Seite 66.973.

Damals müssen also die Zigeuner schon geraume Zeit im Peloponnes gesessen haben. Auch in der Walachei waren bereits im 14. Jahrh. Zigeuner ansässig. Die böhm. Annalen erwähnen das Auftreten der Zigeuner zuerst 1416. Daß sie aber dort schon früher vorhanden waren, beweist, daß in den Gerichtsakten der Herren von Rosenberg vom J. 1399 gesagt wird, daß unter einer Räuberbande, die damals im südl. Böhmen ihr Unwesen getrieben hatte, sich auch ein «schwarzer Zigeuner» befand. In Deutschland lassen sie sich, wie erwähnt, zuerst 1417 nachweisen. Ihre Anführer nannten sich «Herzoge» und «Grafen» und wiesen Schutzbriefe des Kaisers Sigismund vor. Sie fanden in vielen Städten freundliche Aufnabme und reichliche Unterstützung. Bald aber erkannte man sie als Diebe und Betrüger, viele wurden gefangen und gehenkt. In Italien zeigten sie sich zuerst 1422 vor Bologna, in Spanien 1447 in Barcelona, in den Niederlanden 1420 in Deventer; in Polen und ¶

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dem westl. Rußland sind sie erst 1501 urkundlich nachweisbar, in England seit Mitte des 15. Jahrh., in Schottland 1506, im Baskenlande 1538; nach Schweden kamen sie 1512. Mit diesen histor. Thatsachen stimmen die linguistischen Ergebnisse vollkommen überein. Sämtliche Zigeunerdialekte Europas enthalten in reichem Maße griech. Worte, ja, die griech. Sprache hat auf sie in einer Weise eingewirkt, wie es sich nur aus einem sehr langen Aufenthalt in Griechenland [* 36] erklären läßt. Außer griech. Elementen enthalten alle europ. Dialekte auch andere fremde, d. h. nichtindische. Man kann daraus entnehmen, welches der Weg gewesen ist, den sie bei ihrer Wanderung eingeschlagen haben.

Aus den Ländern des Hindukusch zogen sie nach Persien, von dort durch Kurdistan nördlich nach Armenien, wo sie lange gesessen haben. Von Armenien zogen sie westlich durch Kleinasien hindurch nach den griech. Inseln, vor allem nach Kreta, von dort nach dem Peloponnes, wo sie jahrhundertelang gesessen haben müssen. Nach der europ. Türkei sind sie erst von Griechenland aus eingewandert. Von Griechenland zogen sie sodann durch Albanien, Serbien östlich nach der Walachei und Moldau, dem heutigen Rumänien, von der Walachei aus kamen sie nach Ungarn, von dort nach Deutschland.

Auf Grund der Sprache hat Miklosich die Zigeuner Europas in 13 Gruppen geteilt:

1) griechische, 2) rumänische, 3) ungarische, 4) mährisch-böhmische, 5) deutsche, 6) polnisch-litauische, 7) russische, 8) finnische, 9) skandinavische, 10) italienische, 11) baskische, 12) englisch-schottische, 13) spanische. Griechische Zigeuner nennt Miklosich die in der europ. Türkei lebenden. Ihre Zahl wird auf etwa 67000 (mit Bulgarien und Ostrumelien 117000), von andern aber auf 214.000 angegeben; noch unsicherer ist die Schätzung der Zigeuner der asiat. Türkei, die zwischen etwa 40000 und 200.000 schwankt.

Konstantinopel

Bild 10.28a: Konstantinopel
* 37 Konstantinopel.

Die türkischen Zigeuner teilen sich in Nomaden, unter denen die wildesten und ursprünglichsten die Zapari sind, und seßhafte Zigeuner. Diese beiden Klassen sind in Sprache und Sitten weit voneinander verschieden. Die seßhaften sind, außer den in Konstantinopel [* 37] selbst sitzenden, meist Christen, die Nomaden Mohammedaner. In Konstantinopel selbst sind nur etwa 140 Familien ansässig, die meist Mohammedaner sind und ihre Muttersprache fast ganz vergessen haben. Anderswo sitzen sie zahlreicher, wie z. B. das Dorf Hebibdsche bei Adrianopel fast ausschließlich von Zigeuner bevölkert ist. Zu den rumänischen Zigeuner gehören sprachlich auch ein Teil der serbischen, ferner die in Belgorod im Depart. Kursk in Großrußland angesiedelten und die bei Taganrog am Asowschen Meer.

In der Moldau und Walachei waren sie bis 1856 leibeigene, teils der Krone, teils der Klöster und von Privaten. Die Zahl der Zigeuner in Rumänien ist etwa 250.000, in Serbien 34000, in Bosnien [* 38] und der Herzegowina 14000. Am besten bekannt sind die ungarischen Zigeuner. Während in Eisleithamen nur etwa 16000 leben sollen, wurden 1893 in Ungarn 274.940 Zigeuner gezählt, darunter 243.432 ansässige, 20406 zeitweilig ansässige und 8938 Wanderzigeuner. Nach der Volkszählung von 1890 sprachen 91603 Personen die Zigeunersprache.

Für Böhmen uud Mähren wird die Zahl der Zigeuner auf 13500 angegeben, für Deutschland auf etwa 2000, ebenso für Frankreich, für Spanien auf 40000, für Italien auf 32000, für Rußland auf 58000 (sowie 15000 in Polen). Ganz unsicber sind die Zählungen in andern Ländern. Insgesamt wird die Zahl der europäischen Zigeuner von Cora auf 779.000 berechnet. Sehr zahlreich sind sie noch in Persien, ebenso in Nordafrika und Kleinasien. Auch in Amerika begegnet man ihren wandernden Zügen.

Haut (anatomisch)

Bild 8.231: Haut (anatomisch)
* 39 Haut.

Ethnographisches. Der Zigeuner ist in der Regel von mittlerer Gestalt, fast stets wohlgebaut, schlank, mit kräftigen, muskulösen Gliedern. Die Farbe der Haut [* 39] ist braungelb, das Haar dicht und schwarz. Die Frauen sind in ihrer Jugend oft von angenehmem Äußern, stehen aber in der Regel hinter den Männern zurück und altern ungemein schnell. Männer und Frauen haben blendendweiße Zähne; [* 40] vor allem aber zeichnet sie das große schöne Auge mit den langen, schwarzen Wimpern aus, das auch bei Stämmen der Darden sich findet.

Pferde I

Bild 12.947a: Pferde I
* 41 Pferd.

Die Wohnung ist in der Regel ein elendes Zelt, das der Zigeuner überall mit sich führt. Andere, wie ein Teil der ansässigen Zigeuner in Siebenbürgen, bauen sich eine Art Wohnung unter der Erde, oft bis 12 Fuß tief, deren Ausstattung eine höchst primitive ist. Der wahre Zigeuner bleibt überhaupt nur im Winter in einer solchen Wohnung, namentlich bei Wind, den er als seinen schlimmsten Feind ansieht. Im Frühling geht das Wanderleben wieder an und das Zelt tritt wieder in sein Recht. Unentbehrlich ist dem echten Zigeuner ein Pferd, [* 41] an dessen Stelle in der Türkei und Italien oft der Esel tritt.

Größere Banden führen fast immer einen Wagen bei sich, der nicht selten zur Wohnung und Küche eingerichtet ist. Als Luxusgegenstand sucht jeder Zigeuner einen silbernen Trinkbecher zu erwerben, der als Erbstück in der Familie bleibt und in besonderer Ehre gehalten wird. Diejenigen, die Schmiede sind, besitzen außerdem noch einen Blasebalg, einen Amboß, der meist aus Stein ist, eine Zange [* 42] und ein paar Hämmer. Als Farbe der Kleidung liebt der ungarische Zigeuner Rot, daneben Grün, und Grün ist auch die Lieblingsfarbc der deutschen und war in ältern Zeiten die der englischen. Für den deutscben Zigeuner ist Grün das Zeichen der Makellosigkeit und Unbescholtenheit. Die spanischen Zigeuner haben wesentlich dieselbe Tracht wie die Pferde- und Maultierhändler von Andalusien, mit denen sie auch das Geschäft gemeinsam haben.

In der Wahl der Nahrung ist der Zigeuner nicht heikel. Am liebsten ißt er recht fettes Fleisch, besonders Schweinefleisch, und vor allem den Igel, das Nationalgericht. Pferdefleisch verschmäht er im allgemeinen, nimmt aber keinen Anstand sogar Aas zu essen. Von Getränken liebt er am meisten den Branntwein. Er ist auch ein leidenschaftlicher Verehrer des Tabaks in allen Gestalten. Man hat die Zigeuner auch, jedoch mit Unrecht, beschuldigt Menschenfleisch zu essen. Ebenso ist der professionsmäßige Kinderraub der Zigeuner ein Märchen. In Wahrheit sind nur äußerst wenige Fälle von Kinderraub einigermaßen bezeugt.

Die Zigeuner haben eine eigene polit. Verfassung. Sie selbst nennen ihr Haupt raj (d.i. das alte Sanskritwort raja [spr. radscha], das «König» bedeutet). Die deutschen Zigeuner zerfallen nach Liebich in drei Landsmannschaften, von denen jede ihren eigenen Hauptmann hat: die altpreußische, die sich besonders in Schlesien [* 43] und Posen [* 44] herumtreibt, die neupreußische uud die hannoveranische. Jede hat ihre eigenen Farben und ihren eigenen heiligen Baum. Die Altpreußen tragen Schwarz-Weiß und ihr heiliger Baum ist die Tanne [* 45] oder der Hagebuttenstrauch, die Neupreußen tragen Grün-Weiß und verehren die Birke, die Hannoveraner tragen Schwarz-Blau-Gold und ¶

Fortsetzung Zigeuner:
→ Seite 66.974 || halten den Maulbeerbaum heilig. Ihr Wappen, ein Igel, trägt je nach der Landsmannschaft ein
Ergänzungen aus Duden, Volltext Suche, Kontext und Quellen.
Quelle: Meyers Konversations-Lexikon, 1888; Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892; 16. Band, Seite 903 im Internet seit 2005; Text geprüft am 9.1.2010; publiziert von Peter Hug; Abruf am 17.6.2025 mit URL:

https://elexikon.ch//zigeuner

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